Gerne wird den Bürgerinitiativen und somit dem BBgS von Übertragungsnetzbetreibern und Bundesnetzagentur die Kompetenz abgesprochen, wenn es um den Bedarf an Höchstspannungsleitungen in Deutschland geht. Doch unser Urteil basiert vielfach auf Aussagen renomierter Energieexperten und rechtfertigt somit die Kritik am überdimensionierten Netzausbau. Auch wenn durch neue Gesetze die Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren in die Bedeutungslosigkeit verbannt werden soll, der Protest am Bundesbedarfsplan bleibt bestehen.
Aufgrund einer Initiative des BUND, haben sich ausgewiesene Energieexperten zu Wort gemeldet und in einem bemerkenswerten Brief an die Bundestagsfraktionen die Forderung unterstützt, den überdimensionierten Bundesbedarfsplan 2020 zu überarbeiten und Alternativen zu entwickeln. Hier ein Auszug:
Prof. Dr. Claudia Kemfert
Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW Berlin). Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und seit vielen Jahren gefragte Expertin für Politik und Medien. Erfolreiche Buchautorin: Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole (2013) / Das fossile Imperium schlägt zurück (2017)
Statement: „Fossile abregeln, nicht die Erneuerbaren“
„Der Netzausbau in Deutschland beruht immer noch auf der alten Denkwelt der konventionellen Energiewirtschaft. So werden die Kohlekraftwerke zwar jetzt (endlich) aus dem Szenariorahmen entfernt, jedoch werden sie durch ebenfalls sehr CO2-intensive Erdgaskraftwerke ersetzt. In den (wenigen) Stunden mit Netzengpässen werden Erneuerbare abgeregelt, statt die fossilen Kraftwerke, die teurer und schmutziger sind, vom Netz zu nehmen. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien belegt, dass mit kostengünstigen Maßnahmen wie Abregelung, Leiterseilmonitoring sowie der Berücksichtigung der Infrastrukturkosten bei der Planung der notwendige Netzausbau erheblich reduziert werden kann. So lange der Bundesbedarfsplan sich nicht am „new normal“ einer 100% erneuerbaren, möglichst dezentralen Energieversorgung orientiert, sondern das alte System stärkt, ist er abzulehnen.“
Prof. Dr. Uwe Leprich
Energie- und Wirtschaftswissenschaftler an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Von April 2016 bis März 2018 war er Leiter der Abteilung Klimaschutz und Energie am Umweltbundesamt.
Statement: „Man muss sich von der „Kupferplatte“ verabschieden und dezentrale Potentiale ausschöpfen“
„Das Herz der Energiewende schlägt aktuell auf der dezentralen Ebene: bei den Genossenschaften, findigen Ingenieuren, Energieberatern, Hausbesitzern, innovativen Wohnungsbaugesellschaften, engagierten Kommunalpolitikern, … Es ist skandalös, dass die politischen Rahmenbedingungen dezentrale Ansätze und Systemlösungen immer noch stark behindern und ausbremsen und sie gleichsam als Störfaktoren in einem ansonsten „effizienten“ Gesamtsystem betrachten. Eines ist sicher: wenn man sich von der Traumtänzerei einer geschlossenen „Kupferplatte“ bei den Stromnetzen verabschiedet, benötigt man händeringend vielfältige dezentrale Systemlösungen, die heute entwickelt werden müssen. Dies beinhaltet auch die Sektorkopplung und damit die optimierte Nutzung der lokalen und regionalen Strom- und Gasnetze. Selbst wenn der aktuell geplante Stromnetzausbau bis 2035 umgesetzt werden sollte – was eher fraglich erscheint und auch extrem teuer wäre -, muss das dezentrale Potenzial der Systemlösungen umfassend ausgeschöpft werden, um eine weitere unrealistische Ausbaurunde nach 2035 überflüssig zu machen. Dafür müssen die Weichen in Berlin sehr zeitnah gestellt werden.“
Dr. Axel Berg
Jurist, Politologe, Doktor der Philosophie und Buchautor. Er war stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Coautor des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und Initiator der Exportinitiative für Erneuerbare Energien. Seit 2009 ist er deutscher Vorsitzender der von Hermann Scheer gegründeten Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien EUROSOLAR.
Statement: „Dezentrale Energiewirtschaft ist kostengünstiger, sozialer und bietet mehr Versorgungssicherheit.“
„Zentrale und dezentrale Systeme vertragen aufgrund ihrer physikalischen und ökonomischen Charakteristika kein Nebeneinander. Je schneller der Umstieg von statten geht, desto einfacher und kostengünstiger ist er. Übertragungstrassen sind überregionale, auf Dauer angelegte zentrale Systeme mit zentraler Steuerung und nur für die Betreiber lukrativ. Eine Auslastung und Refinanzierung ist nur möglich, wenn der Ausbau Erneuerbarer Energien außerhalb der Anschlussmöglichkeiten klein gehalten wird. Der Ausbau von Übertragungsnetzen fördert die Energiewende nicht, sondern zwingt die dezentralen Erneuerbaren und die Verbraucher für Jahrzehnte in das Funktionssystem der etablierten Stromversorgung. Der Systemwechsel hin zu einer dezentralen Energiewirtschaft setzt auf lokale Versorgungskonzepte mit der Verstärkung vorhandener Verteilnetze im Niederspannungsbereich, über die Lastenausgleich, virtuelle Kraftwerke, Speicher und Sektorenkopplung betrieben werden. Die Potenziale, um so die Energieversorgung ausschließlich mit heimischen Solarenergien zu organisieren, sind im Überfluss vorhanden. Neue Übertragungsnetze sind, bis auf wenige Ausnahmen, nicht nur überflüssig, sondern für die Energiewende kontraproduktiv.
Solarstrom ist Sozialstrom; bereits jetzt ist eine Eigenversorgung mit Photovoltaik auf dem Dach und einer Batterie im Keller billiger als der Bezug von Netzstrom. Und die Technikkosten sinken weiter. Je höher die Netzkosten durch den übertriebenen Ausbau für die Verbraucher steigen, desto mehr Menschen und Unternehmen werden darüber nachdenken, sich vom Netz zu trennen, um sich selbst zu versorgen.
Nur Millionen von Anlagen, die auch unabhängig vom Hauptnetz funktionieren, überstehen unbeschadet Naturkatastrophen oder einen Cyber-Anschlag auf das Hochspannungsnetz oder auf Großkraftwerke.“
Prof. Dr. Lorenz Jarass
Der mittlerweile emeritierte Professor für Wirtschaftswissenschaften lehrte an der Hochschule RheinMain und ist Autor zahlreicher Fachbücher zum Thema Netzausbau. In einer aktuellen Studie befasst sich der Stromnetzexperte mit den Netzausbaukosten.
Statement: „Eine Reihe kostengünstiger, nicht berücksichtiger Maßnahmen machen HGÜ Leitungen überflüssig“
„Der Netzentwicklungsplan sieht bis 2035 einen Netzausbau von fast 18.000 km mit Investitionskosten von 95 Mrd. € vor. Dieser Netzausbau ist ganz überwiegend für den Stromexport von Leistungsüberschüssen erforderlich. Für Leistungsdefizite (Dunkelflauten) hingegen ist auch laut Bundesnetzagentur typischerweise kein Netzausbau erforderlich. Unser Buch „Überdimensionierter Netzausbau behindert die Energiewende“ belegt u.a.: Die fehlende Berücksichtigung der Netzausbaukosten führt zu einem signifikant überhöhten Netzausbau und macht damit die gesamte Bedarfsanalyse des Netzentwicklungsplans fragwürdig. Es gibt eine Reihe von kostengünstigen Maßnahmen zur Verringerung des erforderlichen Netzausbaus, die im Netzentwicklungsplan ganz überwiegend unberücksichtigt bleiben und jedenfalls die geplanten HGÜ-Erdkabel überflüssig machen würden.“
Prof. Dr. Bernd Hirschl
Leiter im Forschungsfeld Nachhaltige Energiewirtschaft und Klimaschutz am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) GmbH.
Statement: „Der Gesetzesrahmen erschwert eine stärkere regionale Verteilung, hierfür braucht es neue Szenarien.“
„Die Szenarioermittlung und die sich daran anschließende Netzentwicklungsplanung orientiert sich maßgeblich an dem geltenden gesetzlichen Rahmen. Dieser erschwert aber gegenwärtig eine stärkere regionale Verteilung der erneuerbaren Energien sowie eine Nutzung der sich daraus ergebenden Überschüsse vor Ort durch geeignete Flexibilitätsoptionen. Eine stärkere Regionalisierung der Erzeugung von Wind- und Solarstrom sowie von systemdienlicher Flexibilität könnte gleichermaßen für eine gleichmäßigere Verteilung von regionaler Wertschöpfung und Beschäftigung wie auch für mehr Akzeptanz und Resilienz sorgen – und nebenbei den Netzausbaubedarf verringern. Hierfür braucht es aber Szenarien, die derartige Entwicklungen und Eigenschaften – und ihre voraussichtlichen Kosten und Nutzen – ebenfalls abbilden“.
Dr. René Mono
Geschäftsführender Vorstand der 100% erneuerbar Stiftung und Vorstandsmitglied im Bündnis Bürgerenergie e.V.
Statement: „Dezentrale Energiewende reduziert Leitungsausbau – sozialer und ökologischer“
„In ihren Vorschlägen zum Netzentwicklungsplan und Bundesbedarfsplan gehen Übertragungsnetzbetreiber und Bundesnetzagentur von vollkommen falschen Grundannahmen und Zielsetzungen aus. Ihre Pläne berücksichtigen nicht die Möglichkeiten einer dezentralen Energiewende, bei der regionale Erzeugungs- und Flexibilitätsoptionen intelligent auf die regionale Verbrauchslast abgestimmt werden. So kann der Transport- und damit auch der Netzausbaubedarf, wie sich in Modellierungen nachweisen lässt, reduziert werden. Studien zeigen, dass die dezentrale Energiewende gesamtwirtschaftlich nicht teurer ist als eine Energiewende, bei der Übertragungsnetze die regionale Optimierung von Erzeugung und Verbrauch unnötig machen. Sie hat aber andere Vorteile: Die Wertschöpfung kommt den Menschen und Verbraucher*innen zugute, dadurch ist die Akzeptanz höher, und sozialpolitische Ziele können mit ökologischen verbunden werden. Außerdem ist die Resilienz (Widerstandsfähigkeit gegen Angriffe von außen) höher. Vor allem aber kommt eine dezentrale Energiewende ohne den Import des klimaschädlichen Erdgases aus, der zudem autoritäre Regime unterstützt.“
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